Komm, du Heiland aller Welt
Geschätzte Leserin,
geschätzter Leser,
manchmal ist es rückblickend erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. So geht es mir, wenn ich daran denke, dass m&l inzwischen seit einem Jahr online ist. Damals war es genau am 1. Dezember, als wir Ihnen zu Beginn des Kirchenjahres mit dem ersten Advent die neue Erscheinungsweise präsentieren konnten. Einen Rückblick finden Sie in unserem Artikel "Ein Jahr m&l online".
Dieses Jahr fällt der Beginn des Kirchenjahres auf den 30. November. Daher können Sie dieses Editorial heute schon lesen, bevor morgen zu Beginn des neuen Monats wie üblich Newsletter und Artikel erscheinen.
Einsiedeln.Codex366.p39
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6. Luzerner Singalong
Eine der für mich berührendsten Melodien und mein Lieblings-Adventslied ist das aus dem frühkirchlichen Hymnus "Veni redemptor gentium" hervorgegangene "Komm, du Heiland aller Welt". Im KG ist es unter der Nummer 307 mit einer in meinen Augen gelungenen Textübertragung von Markus Jenny aus dem Jahr 1971 zu finden.
Die Melodie im zweiten Kirchenton kann auf einen gregorianischen Hymnus zurückverfolgt werden, der in einer Handschrift zu finden ist, die unter dem Namen Codex 366 in der Stiftsbibliothek im Kloster Einsiedeln aufbewahrt wird. Es kann vermutet werden, dass die Melodie aber viel älteren Ursprungs ist. Zumal der Kirchenvater Ambrosius, Schöpfer des Textes, mehrere Melodien für diesen Hymnus verwendet haben soll. Das Titelbild unseres Artikels zeigt die erwähnte Handschrift.
Erfurter Enchiridion, 1524
Nun komm, der Heiden Heiland
Schon im MIttelalter und erst recht zu Zeiten der Reformation wurde der Text nachgedichtet und ins Deutsche übertragen. Die bekannteste Fassung schuf Martin Luther als Kontrafaktur mit fast wörtlicher Übersetzung unter dem Titel „Nu kom der Heyden heyland“ im Jahr 1524. Die im protestantischen Gesangbuch Erfurter Enchiridion erschienene Fassung ist ebenso wie die gregorianische Melodie dorisch - hier auf den Grundton g gesetzt. Die erste Strophe, deren Verse aus sieben Silben zusammengesetzt sind, lautet folgendermassen:
Nu kom der Heyden heyland/
der yungfrawen kynd erkannd.
Das sych wunnder alle welt /
Gott solch gepurt yhm bestelt.
Deutlich zu sehen ist der kompositorische Kunstgriff, mit dem die Melodie dem Umstand Rechnung trägt, dass die lateinische und gregorianische Vorlage im Text pro Zeile acht Silben und dadurch auch acht Töne hat.
Veni, redemptor gentium;
Ostende partum virginis;
Miretur omne saeculum.
Talis decet partus Deo.
Durch die Verwendung von Achtelnoten in den Zeilen eins, drei und vier sowie dem punktierten Rhythmus in der zweiten Zeile wird die Melodie den nun sieben Silben problemlos angepasst.
Die Rezeption der Melodie
Neben zahlreichen Vertonungen für Chor von Lucas Osiander über Michael Prätorius zu vielen anderen hat sich Johann Sebastian Bach mehrfach der Melodie angenommen. Die Kantaten BWV 61 von 1714 und diejenige BWV 62 von 1724 verarbeiten die Melodie und die Strophen des Textes auf unterschiedliche Weise.
J.S. Bach - Kantate "Nun komm, der Heiden Heiland" BWV 61
J.S. Bach - Kantate "Nun komm, der Heiden Heiland" BWV 62
Besonders interessant scheint mir in diesem Zusammenhang, dass die Kontrafaktur im musikalischen Sinne noch weiter gegangen ist. Bachs um das Jahr 1712 für Orgel komponierte Choralvorspiel BWV 659 wurde vom italienischen Klaviervirtuosen und Komponisten Ferruccio Busoni zwischen 1907 und 1909 für Klavier transkribiert.
J.S. Bach: Nun komm, der Heiden Heiland, BWV 659 in der Fassung Ferruccio Busonis
... aller Welt
Froh bin ich persönlich, dass die Übertragung von Markus Jenny aus dem "Heyden heyland" Luthers wieder den "redemptor gentium", den "Heiland aller Welt" gemacht hat. Und in der zweiten Strophe überzeugt mich die Formulierung "Nicht nach eines Menschen Sinn" sehr, die weg vom patriarchalischen Gedanken "Nicht von Mans blut noch von fleisch", den Luther eher wörtlich aus dem "Non ex virili semine" des Ambrosius übersetzt hat, zu einer umfassenderen Ansprache aller Menschen führt.
Am weitesten entfernt sich die dritte Strophe Jennys von der lateinischen Vorlage und der Übersetzung Luthers. Während sowohl bei Ambrosius mit "Excursus usque ad inferos" als auch bei Luther mit "Fur hyn vndtern zu der hell" die Hölle als Gegensatz zum Thron des Vaters benannt wird, wählt Jenny ein ganz anderes Bild. Das Gegensatzpaar äussert sich in der letzten Zeile "wesenhaft ganz Gott und Mensch". Versöhnlich. Und auffordernd.
Wenn Gott durch Jesu Geburt im Menschen wesenhaft wird, so kann das Göttliche auch in uns heutigen Menschen wesenhaft werden.
Dass wir es zulassen und uns dafür einsetzen, das Göttliche in unserem persönlichen Umfeld wesenhaft werden zu lassen, wünsche ich uns für die beginnende Adventszeit.
Ihr Johannes Diederen
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